Modellprojekt "Alte Menschen und Traumata - Verständnis, Erprobung und Multiplikation von Interventions- und Fortbildungsmöglichkeiten"
Zahlreiche Studien belegen, dass gerade die Generation der heute über 60-Jährigen besonders häufig unter Folgen früher traumatischer Erlebnisse leidet. Ungefähr zwei Drittel dieser Menschen haben im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit traumatische Erfahrungen machen müssen. Diese Erfahrungen umfassen u. a. Bombenangriffe, Gewalt, Vertreibung, Verlust von Angehörigen sowie oft eine damit einhergehende Todesangst. Außerdem wurden nach Schätzungen in ganz Deutschland und vor allem in den Ostgebieten Deutschlands von Dezember 1944 bis zum Winter 1945 ca. zwei Millionen Frauen vergewaltigt.
Die Traumaforschung betont, dass auch die Zeugenschaft eines traumatischen Erlebnisses selbst zu Traumatisierungen führen. Ebenso ist bekannt, dass die traumatisierte Kriegskindergeneration ihre eigenen unbewältigten Traumata unbewusst an ihre eigenen Kinder weitergegeben haben. Dieses Phänomen wird weltweit beobachtet. Aber auch außerhalb von Kriegszeiten haben heute alte Menschen in ihrem Leben verschiedene traumatische Erfahrungen erlebt, wie Unfälle, Verluste, (sexualisierte) Gewalt o. ä. Speziell Frauen sind in unserer Gesellschaft in hohem Maße von sexualisierter Gewalt bedroht und ein Großteil der heute alten Frauen hat Erfahrungen sexualisierter Gewalt, die jedoch bis heute kaum kommuniziert bzw. Bestandteil öffentlich-wissenschaftlicher Diskurse wurden.
Gerade im Leben älterer Menschen zeigt sich, dass lange zurückreichende Traumatisierungen unterschiedlicher Genese in Kriegs- und Friedenszeiten eine bedeutendere und wichtigere Rolle einnehmen als gemeinhin bekannt ist. Studien belegen, dass die Folgen dieser verschiedenen traumatischen Erfahrungen unterschiedlich sind, aber für viele (alte) Menschen sehr gravierend. Überproportional wurden voll ausgeprägte Posttraumatische Belastungsstörungen als langfristige Auswirkungen traumatischer Erlebnisse bei Menschen über 60 Jahren diagnostiziert. Eine "aktive Bewältigung" dieser Erfahrungen erfolgte in der Regel in der Vergangenheit nicht, zudem unterliegen diese traumatischen Erfahrungen und der Umgang mit ihnen auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene einem Tabu. Es besteht die Gefahr, dass es bei bestimmten auslösenden Situationen, z.B. bei pflegebedingter Abhängigkeit, bei den Betroffenen erstmalig oder erneut zu einer (Re)Traumatisierung kommt. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung, der (pflege-)fachlichen Diskussion, in der Beratung sowie der Ausbildung und Praxis wird die Thematik kaum berücksichtigt. An konkreten und praktikablen Interventionsmöglichkeiten fehlt es bisher.
Dieser Umstand hat die Pari Sozial - Gemeinnützige Gesellschaft für paritätische Sozialdienste mbh im Kreis Minden-Lübbecke dazu veranlasst, mit den Projektpartnern Wildwasser Bielefeld e.V. und dem Institut für soziale Innovationen e.V., das dreijährige Verbund-Modellprojekt "Alte Menschen und Traumata - Verständnis, Erprobung und Multiplikation von Interventions- und Fortbildungsmöglichkeiten" mit dem Ziel zu initiieren, Sensibilisierungen für das Thema sowie konkrete Hilfen für die Betroffenen und deren Begleiter unter besonderer Berücksichtigung von Kriegsgewalt, sexualisierter Gewalt sowie der Geschlechtsspezifik zu entwickeln und zu erproben. Dadurch sollen Grenzüberschreitungen, Retraumatisierungen und Trauma-Reaktivierungen in Pflegesituationen vermieden werden.
Die beiden Teilprojekte "Gerontotraumatologische Hilfen bei Kriegs(kinder)traumata" und "Alte Frauen mit sexualisierten Gewalterfahrungen" arbeiten in ihren Regionalprojekten unter Einbeziehung der Angehörigen direkt mit den Betroffenen, sie koordinieren die jeweilige Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit und entwickeln spezielle Angebote für die Akteure im Gesundheitswesen. Damit soll die Situation der Betroffenen direkt und indirekt über den Know-how-Transfer an die Akteure im Pflege- und Gesundheitsbereich verbessert werden. Eine Sensibilisierung für ein meist verschwiegenes Thema, kombiniert mit konkreten Hilfsangeboten, nutzt sowohl der Zielgruppe als auch den Pflegepersonen bzw. den ehrenamtlich und beruflich Pflegenden sowie der Fachöffentlichkeit. Sie dient der Entwicklung einer neuen Kultur der Achtsamkeit insgesamt.
Als zentrales Mittel für die nachhaltige Sensibilisierung ist insbesondere der Aufbau einer Informations- und Lernplattform im Internet mit dem Ziel geplant,
- Betroffenen selbst im Sinne einer Psychoedukation Informationen zum Thema zu vermitteln,
- (pflegenden) Angehörigen einen anonymen Zugang zu Wissen über sexualisierte Gewalterfahrungen alter Frauen zu ermöglichen sowie
- die Handlungssicherheit von Professionellen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen durch fachspezifisches Wissen zu verbessern und somit zu einer Enttabuisierung des Themas beizutragen.
Die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW fördert das wissenschaftlich begleitete Projekt mit 903.600 €.
Weitere Informationen zum Projekt können Sie bei der Pari Sozial - Gemeinnützige Gesellschaft für paritätische Sozialdienste mbh im Kreis Minden-Lübbecke einholen.